Fallsammlung Kurier-, Express-, Paketdienst-Branche 2024
Broschüre / Flyer15. April 2024
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Julian Rettig/Faire Mobilität
Diese Fälle aus der Beratungsarbeit von Faire Mobilität zeigen Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz in der Kurier-, Express- und Paketdienst-Branche auf.
Für Fahrer*innen in der Kurier-, Express- und Paketbranche (KEP-Branche) bedeutet „Arbeiten, bis das letzte Paket zugestellt ist" häufig 10 Stunden und mehr Einsatz pro Tag. Solche massiven Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz stellen wir bei unserer Beratungsarbeit leider viel zu häufig fest, sie sind hier fast schon die Normalität. Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über eine mögliche Flexibilisierung der gesetzlichen Arbeitszeitregelungen haben wir uns intensiver mit diesem Thema beschäftigt. Anhand von fünf Fällen dokumentieren wir, wie Subunternehmen die aktuell geltenden gesetzlichen Regelungen systematisch aushebeln, indem sie Druck auf die Beschäftigten ausüben und welche körperlichen und psychischen Folgen das für die Zusteller*innen hat.
Die Problematik vernachlässigter Fürsorgepflicht in Bezug auf Arbeitszeit zeigt sich exemplarisch am Fall eines bulgarischen Zustellers aus Rheinland-Pfalz. Dieser wurde durch eine Stellenanzeige in Bulgarien auf das Jobangebot in Deutschland aufmerksam. Versprochen wurde ihm Arbeit bei einem großen international tätigen Unternehmen im Bereich der Paketzustellung und eine 40-Stunden-Woche.
Die Realität vor Ort sah aber völlig anders aus: Zunächst stellte sich heraus, dass der Arbeitgeber bloß eine kleine in Mainz ansässige Firma war. Sie war als Dienstleister für eine andere Transportfirma ohne eigene Fahrer*innen tätig. Diese Transportfirma vergab auch Aufträge an andere Subunternehmen, alle mit jeweils etwa 40 angestellten rumänischsprachigen Kurierfahrer*innen. An der Spitze der Auftragskette stand Hermes.
Auch die versprochene 40-Stunden-Woche entpuppte sich als Täuschung. Die tatsächlichen Arbeitszeiten lagen regelmäßig zwischen 9:00 und 21:00 Uhr, das entsprach zwölf Stunden Arbeit pro Tag. Dies geschah an sechs Tagen pro Woche von Montag bis Samstag, was eine wöchentliche Arbeitszeit von 72 Stunden zur Folge hatte. Diese massiven Überschreitungen der gesetzlich zulässigen Höchstarbeitszeit von acht Stunden pro Tag verstießen eklatant gegen das Arbeitszeitgesetz. Trotz mehrfacher Nachfrage erhielt der Ratsuchende auch keinen schriftlichen Arbeitsvertrag.
Nach ungefähr zwei Wochen, an seinem letzten Arbeitstag wurde der Ratsuchende allein mit etwa 200 Paketen in eine andere Region versetzt. Das Zustellgebiet war so groß, dass er trotz zwölfstündiger Schicht nicht alle Pakete ausliefern konnte und sich darüber bei der Vorgesetzten beschwerte. Daraufhin wurde er mit sofortiger Wirkung mündlich gekündigt - nach gerade einmal acht Arbeitstagen mit insgesamt 96 Arbeitsstunden.
Systematische Probleme in der KEP-Branche gehen weit über Arbeitszeitüberschreitungen hinaus. Besonders gravierend wird es, wenn Arbeitgeber die gesetzlich vorgeschriebene Dokumentation der Arbeitszeiten verweigern und Beschäftigte dadurch ihre Rechte kaum durchsetzen können.
Ein portugiesischer Zusteller, der für einen Subunternehmer in Kiel arbeitete, erlebte diese Praxis am eigenen Leib. Sein Fall zeigt, wie Arbeitgeber, um sich abzusichern, „auf dem Papier“ alles korrekt erscheinen lassen, während die Arbeitsrealität völlig anders aussieht. Nach sechs Arbeitsstunden schaltete sich nämlich im Zeiterfassungssystem automatisch eine Pause ein – doch der Fahrer war angehalten, weiterzuarbeiten und Pakete auszuliefern. Da das ausgeschaltete Gerät in der Zeit auch keine Routen anzeigen kann, musste er sich die nächsten Lieferadressen einprägen, denn diese waren bereits in die Gesamtzahl der zu liefernden Pakete einkalkuliert. Eine echte Pause hätte bedeutet, dass er sein Pensum niemals hätte schaffen können.
Anfangs stimmte aus Sicht des Kuriers wenigstens die Bezahlung noch. Und da er um seinen Arbeitsplatz fürchtete, beschwerte er sich zunächst nicht über die fehlenden Pausen. Doch im letzten Monat erhielt er plötzlich nicht einmal ein Viertel seines ihm zustehenden Lohns. Als er seinen Arbeitgeber damit konfrontierte, hieß es lediglich, alles sei korrekt berechnet. Der Beschäftigte forderte daraufhin Einsicht in seine Lohnabrechnungen – doch der Arbeitgeber verweigerte ihre Herausgabe und noch am selben Tag folgte die fristlose Kündigung.
Auch eine vorgerichtliche Geltendmachung an Arbeitgeber und Generalunternehmer, bei der eine Beraterin von Faire Mobilität unterstützte, blieb erfolglos. Der Vertragspartner des Arbeitgebers, der dem Gesetz nach eigentlich für korrekte Bezahlung der Beschäftigten in der Verantwortung steht, antwortete nur lakonisch: „Wir als Auslieferstation können aufgrund von Datenschutz leider nicht unterstützen."
Dieser Fall offenbart ein strukturelles Problem: Obwohl Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet sind, Arbeitszeiten zu dokumentieren und den Beschäftigten zur Verfügung zu stellen, halten sie sich nicht daran. Die Berufung auf Datenschutz zeigt außerdem, wie sich diejenigen, die von Werkverträgen profitieren, aus der Verantwortung ziehen, sobald Arbeitnehmerrechte missachtet werden.
Aufgrund niedriger Stundenlöhne in der KEP-Branche sind viele Beschäftigte gezwungen, täglich lange Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen. Ein Beispiel hierfür ist ein polnischer Kurierfahrer, der für ein Subunternehmen im Amazon-Verteilzentrum in Sachsen tätig war. Er lieferte durchschnittlich zehn Stunden pro Tag Sendungen aus. Sein Arbeitgeber wies ihn ausdrücklich an, sämtliche im Fahrzeug befindlichen Pakete vollständig zuzustellen.
Bei Erhalt seines ersten Lohns stellte der Fahrer fest, dass ihm lediglich neun Stunden pro Tag vergütet wurden – ungeachtet seiner tatsächlichen Arbeitszeit. Auf seine Beschwerden reagierte der Arbeitgeber nicht. Stattdessen erklärte er, die Schichten seien auf neun Stunden geplant, und es sei ihm gleichgültig, ob die Beschäftigten darüber hinaus arbeiten müssten. Als Begründung führte er feste Zeitfenster an, die unabhängig von der Anzahl der Pakete und Zustelladressen einzuhalten seien. Zudem berichtet der Ratsuchende, dass das Zeiterfassungssystem manipuliert worden sei, indem die tatsächlich geleisteten Stunden nachträglich vom Arbeitgeber nach unten korrigiert wurden.
Gespräche mit Kolleg*innen ergaben, dass diese Praxis systematisch und ohne Zustimmung der Beschäftigten angewendet wurde. Im darauffolgenden Monat dokumentierte der Fahrer seine Arbeitszeiten selbstständig und sicherte Screenshots des Zeiterfassungssystems direkt nach jeder Schicht, um Manipulationen zu belegen. Nachdem ihm erneut ein Teil seines Lohns vorenthalten wurde, stellte er eine detaillierte Zahlungsaufforderung. Die Antwort des Arbeitgebers lautete lediglich: „Wir keine Zahlung überweisen“ – eine Formulierung, die als stereotype Darstellung migrantischer Ausdrucksweise interpretiert werden könnte.
Dieser Fall verdeutlicht die prekäre Lage migrantischer Beschäftigter in der KEP-Branche. Sie arbeiten nicht nur überdurchschnittlich lange, sondern sind auch strukturellen Benachteiligungen ausgesetzt. In manchen Fällen entsteht der Eindruck, dass Arbeitgeber davon ausgehen, die aus dem Ausland stammende Beschäftigte seien nicht ausreichend mit der geltenden Rechtslage vertraut oder hätten Schwierigkeiten, ihre Ansprüche wirksam durchzusetzen.
Wie kleine Kürzungen der bezahlten Arbeitszeit am Ende des Monats spürbare Auswirkungen auf dem Gehaltszettel haben können, sieht man bei einem bulgarischen Kurierfahrer aus Norderstedt. Die systematische Arbeitszeitmanipulation sah bei ihm folgendermaßen aus: Täglich wurden ihm die letzten 30 Minuten seiner Arbeitszeit nicht vergütet - die Zeit zwischen der Zustellung des letzten Pakets und der Rückfahrt zum Depot, wo er sich mit dem Chip ausstempeln musste.
Über einen Zeitraum von 22 Arbeitstagen entstand so eine Differenz von 11 Arbeitsstunden. Der Arbeitgeber korrigierte die Arbeitszeiten systematisch in der elektronischen Zeiterfassungsanwendung nach unten. Eine Bezahlung für diese Zeit erfolgte nicht. Der Fahrer konnte aber die Manipulation durch Screenshots der ursprünglichen Zeitaufzeichnung auf seinem Handy belegen und konnte so mithilfe unserer Beratungsstelle eine schriftliche Geltendmachung an seinen Arbeitgeber schicken, in der er die Nachzahlung der Stunden forderte.
Noch vor Zahlungsfrist versuchte der Arbeitgeber, den Mitarbeiter einzuschüchtern und behauptete, die Rückfahrtzeit sei nicht vergütungspflichtig. Nach Rücksprache mit dem Ratsuchenden stellte die zuständige Beraterin im Gespräch mit dem Arbeitgeber klar, dass die Rückfahrt zum Depot zur Arbeitszeit gehört. Nach anfänglichem Widerstand und ihrem Hinweis auf rechtliche Schritte erklärte er sich zur Zahlung bereit.
Der Fall zeigt die typische Praxis in der KEP-Branche: Die tägliche Unterschlagung von 30 Minuten summiert sich über Wochen zu erheblichen Summen. Die nachträgliche "Korrektur" in der Zeiterfassung und die Einschüchterungsversuche verdeutlichen die systematische Strategie, Arbeitnehmer um rechtmäßigen Lohn zu bringen.
Die systematische Verschleierung der Arbeitszeit durch Pauschalvergütung zeigt sich deutlich am Fall eines rumänischen Kurierfahrers aus Thüringen. Im September 2025 wandte er sich an die Beratungsstelle, nachdem er zwei Monate lang für ein Amazon-Subunternehmen tätig war und nicht den vollen Lohn erhielt. Zunächst wurde ihm ein Tageslohn von 80 Euro netto versprochen - unabhängig von den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden. Nach Arbeitsantritt teilte man ihm mit, dass lediglich 70 Euro netto pro Tag ausgezahlt würden. Diese Pauschalisierung diente, wie es sich später herausstellte, dazu, die Arbeitszeitüberschreitung zu verschleiern und eine ordnungsgemäße Zeiterfassung zu umgehen.
Als der Fahrer sich mehrfach über die Lohnkürzung beschwerte, wurde er kurzerhand per WhatsApp gekündigt. Bis heute erhielt er weder ein schriftliches Kündigungsschreiben noch Lohnabrechnungen, es entstand zudem der Verdacht, dass keine Anmeldung bei der Krankenkasse erfolgt war. Erst nach massivem Druck auf das Unternehmen wurde dem Ratsuchenden nachträglich ein Arbeitsvertrag ausgehändigt.
Der Vertrag offenbarte das Ausmaß der Täuschung: Formal war ein Bruttostundenlohn von 15,20 Euro bei einer 37-Stunden-Woche vereinbart. Die Realität sah völlig anders aus: Der Fahrer musste an sechs Tagen pro Woche durchschnittlich zehn Stunden täglich arbeiten - insgesamt 60 Stunden pro Woche. Die Anfahrts- und Beladezeiten wurden dabei nicht einmal erfasst. Zusätzlich zog der Arbeitgeber 400 Euro aufgrund angeblicher schlechter Kundenbewertungen ab. Das Ergebnis: Sein Lohn lag sowohl unter der gesetzlichen Pfändungsfreigrenze als auch unter dem Mindestlohn.
Inzwischen meldeten sich weitere Betroffene bei der Beratungsstelle, die beim gleichen Subunternehmen angestellt waren und von identischen Problemen berichteten.
Der Fall verdeutlicht eine perfide Strategie: Durch die Kombination aus Pauschallohn, fehlender Zeiterfassung und nachträglichen willkürlichen Abzügen werden Beschäftigte systematisch um ihren rechtmäßigen Lohn gebracht. Die mangelnde Dokumentation erschwert es den Betroffenen, ihre Ansprüche nachzuweisen und durchzusetzen.
15. April 2024
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